Berliner Stildörfer
„Ach Gott Kind, ist diese Stadt groß“, seufzen die Eltern, die aus der Provinz zu Besuch sind, und sich in drei Tagen die Museumsinsel in Mitte, den Britzer Garten in Neukölln, den Jüdischen Friedhof in Weißensee, den Kollwitzmarkt im Prenzlauer Berg und das Schloss Charlottenburg angesehen haben. Nein, liebe Eltern, Berlin mag zwar groß sein, doch eigentlich ist Berlin ein Dorf – ein Stildorf. Denn egal in welchem Stadtteil man sich bewegt, man trifft immer die gleichen Leute - so lange man eine bestimmte Art von Veranstaltungen besucht. Anlass und Ort mögen sich unterscheiden – aber die Besucher des Gallery-Weekends, des Thurston-Moore-Konzerts, der Eröffnung des skandinavischen Design-Pop-up-Stores, des Lichtinstallationskonzerts bei der Transmediale oder den abseitigen Shows der Nachwuchsdesigner bei der Fashion Week im 3. Hinterhof sind stets die gleichen: nämlich die Bewohner des Berliner Stildorfes namens „Veranstaltungen-mit-subkultureller-Qualität“.

So anders als in Göttingen und Bielefeld ist das Sozialleben in Berlin also nicht, nur dass man die gleichen Leute nicht an den immergleichen Orten, sondern bei den immergleichen Veranstaltungen trifft. Diese Stilzugehörigkeit schafft ein Gefühl von Heimeligkeit und erleichtert einer Frau das Single-Leben, da sie nicht sofort jedem interessanten Mann ihre Telefonnummer auf den Tisch knallen muss, sondern sich sagen kann: „Ach, den sehe ich ja beim nächsten Mal wieder“. Ebenso wie in Göttingen und Bielefeld kann es dann aber auch passieren, dass die Frau sich nie traut, dem interessanten Mann ihre Telefonnummer zu geben, bis er eines Tages weg ist – nicht aus der Stadt, sondern umgezogen in ein anderes Berliner Stildorf namens „Familienvater-mit-Datsche-am-See“.